Direkt zum Hauptbereich

Krabbelst Du noch oder läufst Du schon?


Laufen und Sprechen sind die beiden Fähigkeiten, die Eltern gebannt erwarten. Für Kinder bedeuten sie große Fortschritte in Richtung Selbständigkeit. Doch was haben beide Fähigkeiten miteinander zu tun? Wie beeinflussen sie sich? In welcher Reihenfolge passiert was? Klar ist, sobald die Kinder laufen, verändert sich massiv ihr Blickfeld und damit ihre Wahnehmung. Das bestätigte auch eine Arbeitsgruppe um Kari S. Kretch von der New York University. Sie beschäftigten sich mit dem Blickfeld krabbelnder und laufender Kinder. Dazu untersuchten sie 13 Monate alte Kinder, die einen "Eye-Tracker" trugen. Das ist eine Kamera, die die Blickrichtung der Kinder misst und am Kopf befestigt wird. Weitere Kinder trugen einen Bewegungsdetektor am Kopf, der die Bewegungsrichtung des Kopfes misst. Wie zu erwarten, schauten krabbelnde Kinder mehr in Richtung Fußboden und weniger in Richtung Wände. Laufende Kinder konnten ihren Bezugspersonen direkt geradeaus ins Gesicht schauen. Krabbelnde Kinder setzten sich hin, um den Blickkontakt vergleichbar aufzunehmen.


Perfektes Zeitfenster zum Sprechenlernen: Zwei Wochen nach dem Laufen lernen.


Eric Walle und Joseph Campos von der  University of California untersuchten die sprachliche Entwicklung von Kindern im Zeitfenster des Laufenlernens.  Sie untersuchten eine Gruppe von Kindern zwischen dem 10. und 13,5. Lebensmonat alle zwei Wochen. Sowohl das Sprechen als auch das Sprachverständnis entwickelte sich im direkten Anschluss an den Erwerb der Fähigkeit des Laufens, signifikant und unabhängig vom genauen Alter der Kinder. In einem Zeitfenster von zwei Wochen im Anschluss an den Zeitpunkt des Laufenlernens zeigten die Kinder einen rasant wachsenden Anstieg an Sprachfähigkeiten sowohl im aktiven Sprechen als auch im Verständnis.

Nach den zwei Wochen nahm dieser Effekt bereits wieder ab. Das bedeutet, dass mit der Fähigkeit des Laufens eher ein sprachlicher Sprung zu erwarten ist, als mit dem Erreichen eines bestimmten Lebensmonats. Anders ausgedrückt, ein Kind, das soeben Laufen gelernt hat, nimmt mehr Wörter auf als ein Kind, das einen bestimmten Altersmeilenstein erreicht hat, in dem typischerweise Kinder laufen lernen.


Bei laufenden Kindern wird der Einfluss der Eltern auf die Sprachentwicklung größer.


In einer zweiten Studie wurden die Kinder hinsichtlich des motorischen Status aufgeteilt. Es gab somit eine  Gruppe mit 24 laufenden und 20 krabbelnden Kindern. Die sprachlichen Fähigkeiten wurden verglichen und mit verschiedenen Faktoren ihres sozialen Umfelds in der beobachteten Eltern-Kind-Interaktion in Zusammenhang gebracht.
Die sprachlichen Fähigkeiten konnten dabei ausschließlich bei laufenden Kindern durch Faktoren des sozialen Umfelds wie dem beobachteten Sprachinput und den beobachteten Bewegungen der Bezugspersonen im Freispiel, vorhergesagt werden. Diejenigen Bezugspersonen, die ihren laufenden Kindern viel sprachlichen Input lieferten und sich im beobachteten Freispiel weniger bewegten, hatten Kinder mit signifikant höherer Sprachkompetenz. Für krabbelnde Kinder konnte dieser Zusammenhang nicht bestätigt werden. Denkbar ist, dass für laufende Kinder durch den intensiveren und leichteren Blickkontakt mit der Bezugsperson und durch das Freiwerden der Hände, die verbale Kommunikation und soziale Interaktion mit der Bezugsperson mehr an Bedeutung gewinnt.


Das Laufen ist eine neue Spielsituation.


Die Autoren Walle und Campos begründen die rasante Sprachentwcklung über die geänderten Bedingungen. Das veränderte Blickfeld, die neuen Möglichgkeiten wie das Freiwerden der Hände ergeben eine Art veränderte Spielsituation, die zahlreiche psychologische Effekte, motorisch, kognitiv, sozial und emotionell zur Folge hat.  Die schnelle Sprachentwicklung ergibt sich damit indirekt aus den Möglichkeiten. Kann das Kind leichter Spielsachen der Bezugsperson geben und die Bezugsperson dabei leichter anschauen, sind neue Kompetenzen wie bspw. soziale Fähigkeiten und damit verbaler Austausch gefragt. Auch vermuten die Autoren ein verändertes Verhalten der Bezugspersonen gegenüber den laufenden Kindern, das auch Einfluss auf die Sprachentwicklung haben könnte.

Walle E. A., Campos J, J. "Infant language development is related to the acquisition of walking." Dev. Psych. Feb 2014, 50(2):336-48. doi: 10.1037/a0033238. Epub 2013 Jun 10. 

Kretch K.S., Franchak J.E., Adolph K.E."Crawling and walking infants see the world differently." Child Dev. Juli-August 2014;85(4):1503-18. doi: 10.1111/cdev.12206. Epub 2013 Dec 16.

Kommentare

  1. Ach, das ist ja spannend! Mein Sohn hat auch direkt nach dem Laufen mit einem Schlag richtig viel gesprochen. Ich hatte mir das einfach damit erklärt, dass das Hirn nicht beides gleichzeitig bedienen kann und nun Kapazitäten freiwurden. Aber diese Erklärung macht auch Sinn ;-)

    Du hast wirklich einen sehr interessanten Blog!

    LG, Lukaano

    AntwortenLöschen
    Antworten
    1. Vielen lieben Dank Lukaano für Deinen Kommentar und das Lob über das ich mich riesig freue! Ich hatte auch zuerst Deine Theorie, aber der Autor der Studie hatte mich dann doch noch im E-Mail-Verkehr zur Studie überzeugen können.

      Löschen

Kommentar veröffentlichen

Beliebte Posts aus diesem Blog

Marshmallow-Test und Selbststeuerung?

Selbststeuerung bei Kindern. (aktualisiert 3.7.2018) Die Selbststeuerung oder auch Selbstregulation bleibt ein beliebtes Forschungsthema in den Neurowissenschaften. Der Freiburger Neurobiologe Joachim Bauer veröffentlichte 2015 sein Buch mit dem Titel "Selbststeuerung - Die Wiederentdeckung des freien Willens". Das Buch ist eine Ode daran, Anstrengungen auf sich zu nehmen für längerfristigen persönlichen Erfolg und erfüllende soziale Beziehungen. Die Mai-Ausgabe der Zeitschrift Eltern widmete 2015 eine ganze Seite dem Interview mit ihm. Verena Carl entlockte Joachim Bauer einige Einblicke in sein neues Werk (2). Fehlende Selbstkontrolle löst Stress aus und steht Schulerfolg im Weg... Doch wozu benötigen wir Selbststeuerung als Verhalten? Fehlende Selbststeuerung führt zwangsläufig zu Stress: Informationen treffen uns ungefiltert, unsere Aufmerksamkeit wandert von einem zum nächsten Thema genauso wie unsere Wünsche. Zudem ist es ohne Selbststeuerung kaum mö...

Die Welt der Bildsprache von der Kindheit ins Erwachsenenalter mitnehmen.

Bildsprache in Sozialen Netzwerken  Erkenntnisse aus den Neurowissenschaften sind manchmal etwas zu "sperrig", um sie interessant und übersichtlich Eltern präsentieren zu können. Trotzdem sind viele Ergebnisse wertvoll und sollten nicht nur Fachkreisen zur Verfügung stehen. Deshalb habe ich angefangen, Erkenntnisse und Gedanken in einer Art "Bildsprache" über Twitter anzubieten. Gemeinsam mit Bildern haben meine Tweets mehr Aufmerksamkeit erregt. Dabei bekam ich Kontakt zur Eltern-Blogger-Szene, aber auch zur internationalen "Sketchnoter-Szene" und stellte fest, dass ich im Prinzip nichts anderes erstellte als sogenannte "Sketchnotes". (Neuro-)Wissenschaft für alle durch Sketchnotes Sketchnotes bezeichnen eine Art Bildsprache. Seit gut einem Jahr twittere ich nun fleißig unter @NeuroFuerEltern meine Werke, teilweise zum Themenfeld Neurowissenschaften, aber auch darüber hinaus. Hier stelle ich ein Sketchnote-Beispiel von mir vor. Ich h...

Digitales im Unterricht: Vom Nutzen zum Gestalten

Digitale Bildung wird von Seiten der Politik gefordert und gefördert. (1) So soll das Land Nordrhein-Westfalen beispielsweise über einen Zeitraum von fünf Jahren rund eine Milliarde  Euro vom Bund (DigitalPakt Schule) erhalten.  Eine dafür abschließende notwendige Entscheidung über die Bund-Ländervereinbarung trifft die Kultusministerkonferenz Anfang Dezember 2018. (2) Die Länder sind darüber hinaus dafür zuständig, entsprechende pädagogische Digital-Konzepte zu entwickeln und die Lehreraus- und -fortbildung einer digitalen Strategie entsprechend anzupassen . Mich interessiert als Bloggerin mit "computer-neurowissenschaftlichem" Hintergrund vor allem der pädagogische Einsatz digitaler Konzepte im Schulunterricht , auch wenn der Ausbau der IT-Infrastruktur in Schulen dafür genauso nötig ist :).   Bertelsmann-Stiftung betrachtet den Status Quo der pädagogischen Anwendung digitaler Methoden:  Ein Forscherteam hat im Auftrag der Bertelsmann Stiftung 2017 ...